"Betty Reis ist unsere Anne Frank"
Informativer Streifzug mit dem Wassenberger Heimatverein über den jüdischen Friedhof. Gesamtschüler besuchen die historische Stätte häufig. Von Daniela Giess
Unzählige Kieselsteine liegen auf dem Grab, das an Betty Reis, Namensgeberin der Wassenberger Gesamtschule, und ihre Familienangehörigen erinnert. Sepp Becker, der Vorsitzende des Heimatvereins, erläutert den alten jüdischen Brauch mit den Steinen: "Ich denke an dich, ich war da, ich habe dich besucht."
Die Mädchen und Jungen der nahe gelegenen Gesamtschule gehen regelmäßig auf den jüdischen Friedhof, der schon seit 1688 besteht. "Es sind keine Juden mehr da. Also müssen wir das machen", sei die Auffassung der Gesamtschüler, so Becker. Seit der NS-Zeit, so der pensionierte Lehrer, der auf Einladung des Wassenberger Heimatvereins mit zahlreichen Interessierten einen Streifzug über das historische "Haus der Ewigkeit" unternahm, herrscht hier Chaos. Es sei nicht mehr möglich, die Grabsteine den Grabstellen zuzuordnen.
Die Steine seien von den Nationalsozialisten umgestoßen und mit Fäkalien beschmutzt worden. "Da ist einiges gelaufen. Und nach dem Krieg war kein einziger Jude mehr da, so dass niemand mehr wusste, wie die Grabsteine vorher angeordnet waren." Etliche Grabsteine seien seitdem verschwunden. Das gleiche schwere Schicksal, die Ermordung im gleichen KZ: "Betty Reis ist unsere Anne Frank", heiße es in Wassenberg häufig, erklärte Becker. Ihr 2005 verstorbener Bruder Walter, der den Holocaust im Ausland überlebte, besuchte Wassenberg 1992. Und traf dabei auch auf Sepp Becker, der sich an die Versöhnung des Ausgewanderten mit seiner Heimatstadt, mit dem Bürgermeister und mit Deutschland erinnert, als wäre es gestern gewesen.
In der Nähe der Grabstätte der Familie Heumann - Eva Heumann wurde im Februar 1933 als letzte Jüdin kurz nach der Machtergreifung Hitlers hier beerdigt - zeigt Becker den kanadischen Ahorn von Walter Reis' Grundstück in Toronto. Ein versöhnlich stimmendes Geschenk des gelernten Kaufmanns. "Eigentlich wollte er mit Deutschland nichts mehr zu tun haben", erinnert sich der Vorsitzende des Heimatvereins. "Für meine Schwester tue ich das", habe in dem Brief gestanden, den Walter Reis dann nach Wassenberg schickte. "Die Kinder sind so fantastisch", habe er gesagt, als er im Unterricht an der Wassenberger Gesamtschule von den furchtbaren Gräueltaten berichtet habe. Und: "Ich bin so froh, hier zu sein. Hier gibt es keinen Fremdenhass." Auch zum alten evangelischen Friedhof aus dem Jahr 1628 führte der historische Spaziergang des Heimatvereins. Hier erzählte Becker die Geschichte des "zornigen Herrn Zorn", der seinem Namen alle Ehre gemacht und sich unermüdlich mit dem damaligen Pastor Otto Grashof angelegt habe. Die Querelen hörten selbst mit dem Tod nicht auf. So habe Zorn, ein sehr wohlhabender Tapetenhersteller, dafür gesorgt, dass sein riesiges Familiengrab mit dem imposanten Grabstein die schlichte Grabstätte des evangelischen Geistlichen verdeckt habe - bis heute. Auch an die ehemalige "Villa Nina", in der heute Teile der Wassenberger Stadtverwaltung untergebracht sind, erinnerte Becker. Hier hätten unter anderem Lehrgänge der Hitlerjugend (HJ) und anderer NS-Organisationen stattgefunden.
Quelle: RP vom 19.7.2017