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Sänger: Karl Lieck

Wassenberg1420

 

Pogrom

 

Das Jahr 1938 brachte die Reichs-Pogromnacht, im Nazijargon die „Kristallnacht”. Der Jude Herschel Grynszpan hatte am 7. November 1938 den deutschen Botschaftsrat vom Rath in Paris durch zwei Revolverschüsse schwer verwundet. Am 9. November 1938 erlag vom Rath seinen Verletzungen. Am Abend und in der Nacht begannen auf Goebbels Geheiß überall im Reich Ausschreitungen gegen Juden. In Wassenberg ging die Nachricht davon spätabends telefonisch im Rathaus ein. NS-Bürgermeister Julius Grünweller versammelte seine Wassenberger SS unter Führung von Adolf Beckers. Sein Befehl lautete, in allen jüdischen Häusern nach Waffen zu fahnden. Die SS drang auch in die Wohnung Reis ein. Mutter Else geschah nichts, Vater Willi wurde mit einem Knüppel niedergeschlagen und halbohnmächtig abtransportiert. Einige Wassenberger standen neugierig dabei und verhielten sich so, wie es später der Philosoph Karl Jaspers formuliert hat: „Sie gaben ihre früher ruhmvolle sittliche Vergangenheit auf. Es ging sie nichts an.”

Gemaltes Bild der Synagoge nach Erinnerungen alter Wassenberger
Gemaltes Bild der Synagoge nach Erinnerungen alter Wassenberger

Am Morgen des 10. November 1938 wollte die Wassenberger SS es den reichsweiten Aktionen gleichtun, denn in der vergangenen Nacht waren 600 Synagogen, Gemeindehäuser und Friedhofskapellen in Schutt und Asche gesunken, mehr als 7000 Geschäfte zerstört oder schwer beschädigt. 91 Juden waren ermordet worden, 30.000 verhaftet und in ein Konzentrationslager eingewiesen wie Bettys Vater Willi Reis. Gegen 10 Uhr marschierten die Wassenberger SS-Leute, inzwischen verstärkt durch mehrere SA-Männer, zur Synagoge in „Storms-Jätzke”. Ich möchte den Strafprozess 1946/47 gegen Adolf Beckers nicht referieren. Beckers hat die Anführung bei diesem Pogrom immer geleugnet.

Die Einäscherung des kleinen Tempels vollzog sich wie folgt: Unter Führung von Adolf Beckers zog der Trupp zur Synagoge, zerstörte ihr Portal, warf drinnen das gesamte Mobilar zusammen, kippte mitgebrachtes Petroleum darüber und zündete an. Der Rauch wehte gegen den Burgberg, auf dem vor genau 100 Jahren (1838) die Familie Packenius gewohnt und den Juden das kleine Grundstück geschenkt hatte, auf dem die Synagoge stand und nun brannte. Ein SS-Mann fand das Beschneidungs-Set: Beschneidungsmesser, Klemme und Schere. Wie mir eine Reihe von Augenzeugen berichteten, hängte die SS die Schere mit einer Kordel an einen Besenstiel und trug sie als „Siegestrophäe” in das Amtszimmer von Bürgermeister Grünweller, der sie hinter seinem Schreibtisch an der Wand aufhängen ließ, wie mir Gertrud Hilgers-Luchtenberg beschrieb. Bis zum Weggang aus Wassenberg (1939) zeigte Grünweller vielen Besuchern in verhöhnender Weise sein jüdisches „Marterinstrument“.

Brennende Synagoge 10.November 1938
Brennende Synagoge 10.November 1938

Während der Brand seinen Fortgang nahm, entwickelte sich jedoch eine Szene, die ihresgleichen in der Reichspogromnacht sucht. Der Katholik Max Graab empfand Ekel und Wut. Er näherte sich den Brandstiftern, die er alle persönlich kannte und schrie sie empört an. Viele Zeitzeugen können dies bestätigen. Dem Sinne nach soll Max Graab gerufen haben: „Ihr seid Verbrecher! Ihr seid Gotteslästerer! Glaubt nur, dass euch das eines Tages heimgezahlt wird. Der Gott der Juden ist auch unser Gott!” Die Umstehenden versuchten ihn zurückzuhalten. „Du machst Dich unglücklich, Max!” ertönte es. Aber Max Graab war nicht zu halten. Wenige Tage später wurde er verhaftet und nach Aachen ins Gefängnis gebracht.

Den ganzen Tag über strömten Neugierige in die Gasse, um das Werk der Vernichtung anzusehen, um die „Strafe für die Juden” nach dem Anschauungsprinzip zum „Unterrichts-Erlebnis” zu machen. Noch am Nachmittag des 10. November 1938 wurden alle Juden aus Wassenberg aus ihren Wohnungen geholt und ins nahe Heinsberg in die Gerberei Manasses Lues (Westpromenade 26) transportiert. Hier blieben sie zunächst nur einige Tage und kehrten dann wieder nach Wassenberg zurück.

Synagogengasse mit Portalgewände des eingeäscherten Tempels
Synagogengasse mit Portalgewände des eingeäscherten Tempels

Betty und Walter Reis erlebten die „Kristallnacht” in Solingen. Da es noch nicht genug bekannt war, dass Walter Jude war, geschah ihm nichts. Die arme Betty aber war als Jüdin gemeldet, wurde aus dem Haus ihrer jüdischen Gastfamilie Terack (Taback) gerissen und von SS und SA in einen „Auffangkeller” verschleppt. Was hier mit ihr geschah, wissen wir nicht, ahnen aber, dass die rotblonde 17-jährige für die enthemmten Horden Freiwild War. Walter ging sofort auf die Suche nach Betty. Am nächsten Morgen konnte eine gute Bekannte, Frau Fritz-Ramsay (Lucy Bremshey), über Mittelspersonen herausfinden, wo Betty gefangen gehalten wurde. Sie benachrichtigte Walter Reis, der einen „arischen” Freund hatte, dem es mit viel Zivilcourage gelang, Betty nach zwei Tagen herauszuholen. Das damals 17-jährige Mädchen, das Walter wiedersah und in seine Arme nahm, war seine Schwester nicht mehr: „Sie schien körperlich und seelisch Unvorstellbares durchgemacht zu haben!” Betty wagte kaum zu sprechen, weil ihr angedroht war, die Rache würde fürchterlich sein, wenn sie den Mund auftue.

Walter brachte seine kranke Schwester nach Wassenberg zu Mutter Else, die inzwischen aus dem Heinsberger Klein-Ghetto heimgekehrt war. Aber sie war jetzt allein. Ihren Mann Willi hatten Adolf Beckers und seine SS-Kumpanen nach Sachsenhausen verschleppt. Freilich: „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch!” (Hölderlin) In Wassenberg kam heimlich Geld zusammen, mit dem ein Aachener Nazi namens Küppers bestochen werden konnte, um Willi Reis „wegen Tapferkeit im Ersten Weltkrieg (EK II)” nach ungefähr 6 Monaten aus dem KZ zu entlassen. Der katholische Pfarrer Wilhelm Baer, selbst Träger des EK I aus dem Ersten Weltkrieg, hatte das Geld zusammengebettelt. Einige Wassenberger haben mir ihr Entsetzen beschrieben, als sie Willi Reis als entlassenen KZ-Häftling wiedersahen: „Er sah wie ein Greis aus und war damals erst 52 Jahre alt.”

Betty lag mehrere Wochen krank in pflegender Obhut ihrer Mutter. Klaus Eberl, evangelischer Pfarrer der Kreuzkirche zu Wassenberg, hat in einer Szenenfolge Bettys Not nachempfindend und deutend dargestellt. Das Stück wurde 1988, 50 Jahre nach der Reichspogromnacht, in der historischen evangelischen Hofkirche in Wassenberg aufgeführt. Es hat viele Wassenberger tief bewegt und die junge Generation ins Nachdenken geführt.

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