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Sänger: Karl Lieck

Wassenberg1420

 

Kinot

(Klagelied)

 

Nach den Ereignissen von November 1938 rieten manche Wassenberger den Reis, zu emigrieren. Es lag damals noch im Interesse der Nazis, möglichst viele Juden abzuschieben. So verließ Walter Reis auf legalem Wege am 17. März 1939 Deutschland, ging in die Niederlande nach Venlo zu Verwandten und von dort nach England. Betty sollte folgen, der Zweite Weltkrieg verhinderte es. Im Winter 1939/40 - damals wimmelte es in unserer Heimat von deutschen Truppen (sächsische Regimenter), die sich auf den Westfeldzug vorbereiteten, - versuchte Betty zweimal, bei Effeld in der Nähe der Gitstapper Mühle und beim „Männke” am heutigen Effelder Waldsee (damals geschlossenes Waldgebiet), über den Rothenbach nach Holland zu kommen. Zwei Zoll- und Polizeiberichte in den Akten der SS-Führung Wassenbergs (Adolf Beckers) vermelden dies. (1983 hat mir Adolf Beckers Einsicht in seine Akten und die seines Vaters, des langjährigen Wassenberger Bürgermeisters Nikolaus Beckers, unter der Bedingung erwährt, dass ich ihn nicht namentlich in meinem Wassenberg-Buch erwähne und bis zu seinem Tode auch sonst nichts Gedrucktes mit seinem Namen darüber herausgebe. Er sah durchaus ein, dass die Synagogen-Einäscherung im Wassenberg-Buch 1) nicht unerwähnt bleiben konnte. Ich unterließ deshalb die Namensnennung und bezeichnete Beckers und Reindahl als Anführer des Pogroms nach Max Frisch mit „Biedermann und Brandstifter”. Nun will ich - nach seinem Tode - seinen Namen nicht verschweigen.)

In den Akten der Gestapo Düsseldorf3) heißt es: „... ist es notwendig, die in letzter Zeit in zunehmendem Maße beobachteten Versuche der illegalen Judenauswanderung beschleunigt und endgültig zu unterbinden.” Damals gab es hier im Limburger Grenzgebiet (Maastricht - Roermond - Venlo) zahlreiche Fluchthelfer. Betty scheint auf sich allein gestellt gewesen zu sein. Der Schritt über den Rothenbach gelang ihr nicht. Dabei war sie eigentlich schon drüben gewesen, als sie ihren Bruder Walter Abschied nehmend nach Dalheim begleitete und von dort zu Fuß bis Vlodrop-Station auf holländisches Gebiet ging. Sie kehrte dann aber „brav” wieder zu ihrer Mutter nach Wassenberg zurück.

Der Rothenbach (Grenzbach). Bettys Fluchtversuche 1939/40.
Der Rothenbach (Grenzbach). Bettys Fluchtversuche 1939/40.

Als Walter Reis 1992 in Wassenberg war, bat er mich, ihm das Gelände an den Grenzsteinen 372 — 375 zu zeigen, die Gitstapper Mühle, das „Männke”, den mäandrischen Lauf des Rothenbachs. Wir standen wortlos an den Stellen mit der unbeantwortbaren Frage: War es hier? War es dort? War’s drei Schritte rechts oder links von hier? Waren die Bäume damals schon da?

Grenzweg an der Gitstapper Mühle bei Effeld. Nähe Fluchtversuch Betty Reis.
Grenzweg an der Gitstapper Mühle bei Effeld. Nähe Fluchtversuch Betty Reis.

Übrigens war es einem anderen Wassenberger Juden, dem jungen Arthur Kaufmann von der Löffelstraße am Roßtor, bei seinem ersten Versuch ebenfalls misslungen, den Rothenbach zu überqueren. Im Januar 1940 Vormittags wurde es jedoch toternst für Arthur; denn an der Haustür seiner» Eltern (Bernhard und Ulrike Kaufmann) erschienen zwei berüchtigte Heinsberger Gestapoleute: Ising und Schmitz. Der Wassenberger Judas fehlte nicht: Fritz Sämmer, ortsinterner Gestapo-Spitzel. Man war gekommen, um Arthur Kaufmann zu verhaften. Nur wenige Minuten vorher hatten Max Graab und seine Schwester Lieschen Arthur gewarnt, der, als die Gestapo vorn zur Türe hereinkam, hinten heraus durch den Garten, über die Haag, quer durchs Feld in Richtung Schloß Elsum und von dort in die Effelder Grenzwälder floh. Diesmal gab’s kein Zurück für ihn. In äußerster Verzweiflung und alles aufs Spiel setzend, gelang der illegale Grenzübertritt. Doch welche Tragik: nur wenige Monate später, am 10. Mai 1940, begann der Westfeldzug. Die Niederlande wurde besetzt. Arthur Kaufmann verhaftet. In die Vernichtungslager deportiert. Untergegangen im Holocaust.

Für unsere Betty gab es nach den beiden gescheiterten Fluchtversuchen keinen Ausweg mehr. Sie wurde nun eingereiht in das Geschick der in Deutschland verbliebenen Juden. 1940/41 war Resi Küppers (verh. Pudsis, Paderborn) auf dem Wassenberger Rathaus als Bürohilfe in der Lebensmittelkartenausgabe dienstverpflichtet. Sie schrieb mir: „Wenn alle ’Arier’ abgefertigt waren, durften die Juden kommen. Sie erhielten um 35 % reduzierte Lebensmittelmarken. Da erschienen die jüdischen Frauen Schwarz, Kaufmann, Heumann, Reis. Auch Betty. An die Juden verkauften damals nur noch zwei Geschäfte Lebensmittel: Mühlenbruch in der Brühl und Peters/Paredis in der Roermonder Straße. Auf unserer Dienststelle arbeiteten Elisabeth Rütten und Finchen Poschen. Die jüdischen Frauen schauten verlegen und wie schuldbewusst zu Boden. Sie sagten kaum ein Wort. Nur die Modistin Adele Heumann sprach lebhaft ihr Wassenberger Platt. Betty Reis war immer die letzte. Ihr Gesicht war traurig wie eine tote Seele. Das war ja nach ihrem furchtbaren Kristallnacht-Erleiden in Solingen. Wir im Rathaus waren betroffen. Wir sahen uns fragend an. Elisabeth Rütten sagte nur: ‘Oh, mein Gott, wie soll das enden?’ Eine Momentaufnahme von damals!”

Um alle Dörfer und Städte „judenrein” zu machen, begann nun überall die Ghettoisierung der Juden in Judenhäusern: die Juden unserer Heimat wurden in Heinsberg im Manasses Lues, Westpromenade 26, konzentriert. Eng zusammengepfercht, in Schmutz und Kalte lebten hier auch Bettys Eltern, die Hutmacherinnen Adele und Berta Heumann, die 86 Jahre alte Sara Heumann, Simon und Rahel Heumann mit den Kindern Benjamin, Simon, Karl und Sara, das Ehepaar Kaufmann, der Schneider Kaufmann aus dem alten Kapuzinerkloster mit seiner Frau und vier Kindern, das Ehepaar Benjamin, die Familie Schwarz - und das alles unter Zurücklassung ihres Eigentums. Der Staat hatte seine Hand auf ihre Habe gelegt und verteilte das jüdische Eigentum, wie es hieß, „über die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt, NSV, zwecks Unterstützung ärmerer arischer Volksschichten“.

Betty war inzwischen 20 Jahre alt, konnte kochen und nähen. Noch war sie gesund. Die Nazis ließen sie von nun ab in Arbeitslagern als Küchenhelferin tätig war: in Eschweiler, in Kohlscheid, in Stolberg, zuletzt in Walheim. Von hier durfte sie öfter zum Wochenende nach Heinsberg fahren, um ihre Eltern zu besuchen. Am 18. August 1941 schreibt sie ihrem Bruder Walter einen Brief, der über die Schweiz auf geheimnisvollen Wegen den Bruder in England erreicht: „Lieber Walter, wie gern möchte ich mal mit Dir plaudern, kann aber nicht sein, darum bleibt es wie es ist. Also Du bist wieder auf Farmarbeit eingestellt, hoffentlich schreibt Onkel Willi (Bettys Vater ist gemeint. D. Verf.) recht oft, hatte man sich doch riesig über Deine Nachrichten gefreut. Doch freut es mich ganz besonders, dass Du weiter lernen kannst, auch ich habe so manches gelernt, was ich vielleicht mal gut gebrauchen kann. Gestern und heute war ich allein, da eine Dame in Urlaub und eine krank war. Es hat aber gut geklappt. Zuhause ist alles in Ordnung. Ich bin öfter bei Mama, dies ist die größte Freude, welche sie hat. Wann besuchst Du Onkel Kastor?” Walter Reis bemerkt zur letzten Frage: „She writes ‘Wann besuchst Du Onkel Kastor?’ which means, is there any Chance for you to get a Passage to the USA?”

Geschäfts-, Fahrten- und Spendenkonto des Heimatvereins Wassenberg e.V.:  
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