Es war einmal eine Zeit, da lebten gewaltige Riesen auf dieser Erde. Es war die gleiche Zeit, wo riesige Tiere – Dinosaurier – so groß, wie heute Kirchtürme, den Menschen Angst und Schrecken einjagten.
Damals lebten drei Riesen, die besonders groß, kräftig, eben riesig und berühmt waren.
Zwei kennt man auch heute noch, das waren der Riese Rübezahl, ein menschenfreundlicher Riese, der gute Geist des Riesengebirges. Von ihm hat es seinen Namen.
Und weiter lebte ein Riese in der Gegend von Nazareth, auch ein gewaltiger Riese, der als Fährmann die Menschen über reißende Flüsse trug, der ganze Schiffsladungen über Gewässer transportieren konnte, doch an einem Kinde wäre der Riese fast zerbrochen. Als er einmal dieses Kind auf seinen Schultern durch einen reißenden, wildschäumenden Fluss tragen wollte, wurde das Kind plötzlich so schwer, dass er es kaum noch halten konnte. „Wer bist du, dass du so schwer bist?“ Das Kind, es war der kleine Christus (Jesus von Nazareth), antwortete ihm: „Mit mir trägst du die ganze Welt.“ Daher hat der Riese seinen Namen: Christusträger; auf Griechisch heißt das – damals sprachen viele Menschen griechisch – Christopherus.
Heute befindet sich fast in jedem Auto ein Amulett mit dem Abbild des Riesen, er soll die Autofahrer schützen.
Und wer war der dritte Riese? Das war der Riese Bowemo. 1)
Der war zum Fürchten, der war schrecklich, grausam, gewalttätig und daher hat man ihn auch völlig vergessen. Aber das allerschlimmste war, er lebte in unserer Gegend, an Rur und Maas, und machte die Gegend zur unsichersten der ganzen Welt. Viele Menschen flohen vor ihm in die Eifel oder ins benachbarte Limburg.
Er aß nicht wie ein Mensch, er fraß ähnlich wie ein Krokodil. Er stopfte sich zum Frühstück zwei oder drei Schafe in seinen riesigen Mund. Er aß alles roh – wie Gehacktes. Statt Brot zu essen, kniete er vor einem Roggen- oder Weizenfeld und aß die Körner vom Halm, wie es die Kühe tun.
Mit seinen riesigen Pranken zerteilte er einen Ochsen oder eine Kuh und aß – besser fraß – ganze Teile dieser Tiere wie ein Schnitzel. Er lebte schon an die 100 Jahre und versetzte die armen Leute in Stadt und Land in Angst und Schrecken. So kam er eines Tages auch nach Wassenberg. Er wusste, der Graf von Wassenberg hatte gut genährte Kühe und fette Schweine in seinen Stallungen auf der Burg und das wären Leckerbissen für ihn gewesen. Er stampfte von Ophoven kommend, an Birgelen vorbei in Richtung Burg.
Oben auf dem Bergfried stand aber zufällig ein Sohn des Grafen, der Ritter Heinrich von Wassenberg. Als er den Riesen kommen sah, dieses Ungetüm, brach ihm der kalte Schweiß aus. Er zitterte wie Espenlaub. Der Riese stand mit seinen großen Füßen noch unten am Burgberg, sein Kopf jedoch reichte bis zur Spitze des Burgturms, wo Ritter Heinrich, blass geworden in die teuflische Fratze des Riesen schaute. Die Augen des Riesen funkelten vor Fressgier, der Speichel tropfte aus seinem Riesenmund. Ha, das würde eine Mahlzeit werden wie lange nicht mehr, so freute er sich.
Ritter Heinrich indes griff in seiner Not nach seinem Schwert: Es war ein „Zwiehänder“, ein langes, rasiermesserscharfes Schwert, das man mit zwei Händen halten musste, um zuschlagen zu können. Damals war ein solches Schwert eine ganz gefährliche Waffe.
Mehr aus Angst angetrieben denn aus Wut, hob er mit gewaltiger Kraft – er war Gott sei Dank sehr stark – seinen „Zwiehänder“ hoch, und schrie noch: „Heiliger Georgius steh mir bei“ und schlug mit aller Kraft in Richtung Kopf des Riesen. Der aber sah das Schwert kommen und versuchte noch auszuweichen. Doch Ritter Heinrich traf den Kopf des Riesen seitlich und hieb ihm das linke Ohr mit seinem gewaltigen Schwertstreich ab.
Das Riesenohr rollte den Burgberg hinab und blieb am Fuße des Berges liegen. Der Riese brüllte vor Schmerz so laut auf, dass man es bis Heinsberg hören konnte. Er hielt seine linke Pranke am blutenden Kopf und stampfte taumelnd vor Schmerzen in Richtung Effeld davon.
In der Rur wollte er wohl Kühlung suchen. Kurz vor Effeld wurde er jedoch ohnmächtig vor Schmerzen, verlor sein Bewusstsein, wankte und fiel bei Effeld polternd und krachend zu Boden. Als er umfiel bebte die Erde. Doch da, wo er umgefallen war, bildete sich ein See, der Effelder Waldsee. Nun geht mal hin, dann könnt ihr dort sehen und staunen, wie groß der Riese war.
Sein Ohr aber blieb für immer am Burgberg liegen und wurde im Laufe der Jahre zu Stein.
So kann es noch heute bewundert werden und man hat eine Vorstellung davon, wie groß der Riese war.
Ein Glück, dass er gestorben ist, denn wenn er heute noch leben würde – nicht auszudenken.
Hinweis: 1) Bowemo steht für die Anfangsbuchstaben der Orte, die zur Stadt Wassenberg gehören: Birgelen, Ophoven, Wassenberg, Effeld, Myhl, Orsbeck
Der Text stammt aus der Feder von Hanns Heidemanns.