Cheder
(Schulstube)
Betty kam 1928 in die Schule und ging wie alle Judenkinder in die einklassige evangelische Volksschule auf der Kirchstraße. Ab 1929 dann in den Schulneubau in Wassenberg-Süd. Sie fühlte sich wohl, hatte Freunde und Freundinnen. Als 8-jähriges Mädchen machte jedoch ein Erlebnis ihr schockartig klar, „sie gehörte letztlich nicht dazu!” Ein Kind hatte ihr auf dem Plei am Rathaus seinen Roller geliehen, und Betty fuhr damit begeistert über den Platz. Das beobachtete ein in der Nähe wohnender SA-Mann und brüllte näherkommend: „Wea hätt’ dem Jüdd de Roller jejeave?” Und dann riß er Betty den Roller aus den Händen und warf diesen gegen die Rathausmauer. Betty ging still von dannen. Mutter Else hatte ihr eingeschärft: Gerade als Judenkind müsse sie sich in Wassenberg immer gut benehmen und nie auf ihr Recht pochen, weil das „Risches” (Judenfeindschaft) auslöse.
Betty war eine befriedigende Schülerin. Sie schrieb nette Aufsätze und einen passablen Stil. Behalten konnte sie gut. Gedichte lernte sie leicht auswendig. In Rechnen und Erdkunde war sie dagegen schwächer. Ihr Lehrer hieß Karl Paulussen, von dem seine Schüler berichten, daß er die jüdischen Kinder bis 1933 korrekt, manchmal sogar wohlwollend behandelt habe. Mit Hitlers Machtübernahme änderte sich das schlagartig bei ihm. Paulussen sah die Möglichkeit einer Parteibuch-Karriere, die ihm dann auch bis zum Schulrat gelang. Er wurde fanatischer Jugendführer und kompromißloser Antisemit. Ich selbst und viele meiner Freunde im Heinsberger Land haben als Hitlerjungen seine einpeitschenden, gehirnwäscheartigen Schulungskurse noch düster in Erinnerung. Als „deutschgläubig” bekämpfte er unser „jüdisch verseuchtes Christentum." Er betonte: „Euer Jesus war doch ein ganz gewöhnlicher und beschnittener Scheiß-Jude!” Zum Wassenberger judenbruch wußte er, jüdische Parasiten inszenierten dort ihre anti-deutschen Verschwörungen. Paulussen holte die Kreuze aus den Wassenberger Schulen und hing an ihre Stelle Hitler-Bilder auf. Besonders heftig bekämpfte er die Pfadfinderschaft und versuchte deren Führer, Peter Berger, zu überreden, geschlossen in die Hitlerjugend überzutreten. Peter Berger tat ihm diesen Gefallen nicht. Im Gegenteil!2)
Ab 1933 schnitten manche Mitschüler Betty oder ignorierten sie, wollten jedenfalls mit dem Judenmädchen keinen persönlichen Kontakt mehr. Denn die meisten waren jetzt in nazistischen Jugendorganisationen. Dort galt es als Vergehen, sich mit Juden abzugeben. Von Betty ist ein bedrückender Satz überliefert: „Wenn ich in der Brühl aus unserer Haustüre trete, bin ich wie in der Fremde, wie in Feindesland, wie ausgestoßen!”
Seit 1935 gab es im Lehrplan ihrer Schule das Fach Rassenkunde. Betty war rotblond. Sie sah gar nicht jüdisch aus. Als Lehrer Karl Paulussen seine Schüler Körper und Gesicht ausmessen ließ, um sich „nordische Rasse” zu bestätigen, durfte Betty nicht mitmessen, obgleich sie wahrscheinlich „nordischer“ als manche ihrer Mitschüler gewesen wäre. Walter Halbach aus ihrer Klasse schrieb mir: „Betty tat uns leid. Sie war ein sympathisches Mädchen mit einem fröhlichen Wesen. Sie war tierlieb, hilfsbereit und besaß viel Herzenswärme wie ihre Mutter. Nun wurde alles für sie dunkel.”
Ihr Bruder Walter betont jedoch, daß die früheren Spielkameraden in der Brühl auch nach 1933 zu ihnen gehalten hätten: die Randerath, die Jansen, die Theißen, die Pickartz, die Paredis, die Reinartz, die Heinrichs, die Sieben, die Schlebusch, die Flutgraf‚ die Mühlenbruch, die Fronhofen, die Schmitz, die Thönnissen, die Korsten u.a. Immer noch gab es Wassenberger, die Mutter Else grüßten. 1935 kamen die Nürnberger Rassegesetze heraus: Entzug der staatsbürgerlichen Rechte, Verbot der Eheschließung zwischen Juden und sogenannten Ariern (Rassenschande!), Verbot des Zeigens der Staatsflagge. In jenen Jahren gab es auch in Wassenberg Verbotsschilder mit dem Text: „Juden unerwünscht!” oder: „Juden haben keinen Zutritt!” Schon vor der Machtübernahme waren Betty und Walter bei dem Versuch, das Wassenberger Schwimmbad zu betreten, zurückgewiesen worden. Und auch Walters Wunsch vor 1933, in die katholische St.-Georgs-Pfadfinderschaft aufgenommen zu werden, wurde vom geistlichen Kuraten eiskalt abgelehnt.
Wenn die Hitlerjugend aufzog, erscholl häufig das Hetzlied: „Die Juden ziehn dahin daher, sie ziehn durchs Rote Meer. Die Wellen schlagen zu, die Welt hat Ruh.” Im Hause Reis herrschte seit 1933 zunehmend Armut, manchmal Hunger. Wären nicht mitmenschliche Nachbarn gewesen, die Reis hätten oft nichts auf dem Tisch gehabt. Aus dem gegenüberliegenden Bauernhof Randerath kamen heimlich Milch, Mehl, Kartoffel, Gemüse und sogar Speck. Moses hin, Moses her: koscher konnten die Reis sowieso nicht mehr leben. Alles Essbare musste willkommen sein. Aber still und heimlich unter der Hand: die Nazis passten wie Schießhunde auf, ob jemand Juden unterstützte.
Im Jahre 1936 wurde Betty aus der Volksschule entlassen. Zunächst versuchte sie, Arbeit im Wassenberger Raum zu finden Aber dies gelang nur sporadisch. Wer mochte schon ein jüdisches Mädchen einstellen?! Als sie bei der Kartoffelernte mithelfen Wollte, protestierte der Ortsbauernführer, weil es für „arische” Hilfskräfte auf dem Feld unzumutbar sei. Bis Ende 1937 blieb Betty deshalb im Haushalt ihrer Mutter.
Aus jenen Tagen hat mir die Wassenberger Kino-Mitinhaberin Johanna Flesch erzählt, Betty sei einmal mit dem Wunsch zu ihr gekommen, einen ganz bestimmten Film sehen zu dürfen. Johanna Flesch, die mit den Nazis wenig am Hute hatte, schleuste Betty nach Beginn der Vorstellung in ihr Kurtheater irgendwo auf einen abgelegenen Platz. Als das Licht nach der Vorstellung wieder aufflammte, erkannte ein notorischer Nazi Betty, sah sie vorwurfsvoll an, sagte aber nichts. Betty hatte den Film „Es geschah in einer Nacht” mit Clark Gable und Claudette Colbert gesehen. Einige Tage später wurde Johanna Flesch aufs Rathaus befohlen. Bürgermeister Grünweller blies ihr den Marsch. In einem Kino, in dem zahlreiche Filme eine Art Schule der Nation seien, dürfe ein Jude das Haus nicht entweihen. Veit Harlans Hetzfilm „Jud Süß” kam erst später auf die Leinwand, und unser Wassenberger Kino war, wie ich in Erinnerung habe, überfüllt.