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Kategorie: Arbeitskreise
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Karl Lieck aus Wassenberg schickte Walter Reis (Reece), dem älteren Bruder von Betty Reis, Anfang 2002 ein Exemplar der von ihm herausgegebenen Plattdeutschgeschichten. „Zwischen uns begann ein reger freundschaftlicher Schriftverkehr, wobei ich spürte, dass Walter sich gerne an seine Kindheit in Wassenberg erinnerte“, so Karl Lieck, der Wassenberg aktuell gerne den Brief von Walter Reis aus Kanada vom 5. März 2002 zur Verfügung stellt:

„Lieber Herr Lieck,

Sie machten mir eine große Freude mit Ihrem Buch „Plattdütsch en et Wasseberjer Lank“. Da mein Elternhaus in der Brühl war, machte mir die Erzählung von Käthe Stolz-Theissen besondere Freude.

Der Bruder von Käthe, Theo und der Bruder von Jupp Pickartz, Ludwig, waren meine Spielgefährten in der Brühl. Käthe sagt es richtig, wie wir als Kinder vor der Nazizeit spielten: „Die Kenger spellde met oss un wir li-epen doa all enn un uut.“

Bei gutem Wetter spielten wir Jungen Fußball auf der Landstraße und im Winter liefen wir Schlittschuh auf dem Gondelweiher oder im Judenbruch. Wir kannten kaum einen Unterschied zwischen uns jüdischen Kindern und unseren katholischen Nachbarn. Es war natürlich für uns, dass wir zu Weihnachten Weihnachtslieder mit unseren Nachbarn sangen und die Kinder Matzen von uns zu Ostern bekamen.

Mir fällt ein Vorfall ein, der, wie ich glaube, in Ihr Buch passen dürfte: Meine Schwester Betty und ich gingen in die evangelische Volksschule. Da kamen auch mehrere Kinder von kleinen Dörfern wie Krickelberg, Vogelsang usw. in unsere Schule.

Ich war vielleicht schon im 5. oder 6. Schulgrad, als nach Ostern neuer Zuwachs in die Schule kam. Da bekamen wir ein kleines Mädchen aus einem der Dörfer, das überhaupt kein Hochdeutsch sprechen konnte. Unser Lehrer war nett zu dem Kind und sprach zu dem Mädchen freundlich, denn ich glaube, es hatte Angst. Als der Lehrer das Mädchen fragte „Was möchtest Du denn gerne tun?“ war die Antwort „Müllke stu-ete!“

Ich und die anderen Schüler, die gut Plattdeutsch sprachen, wussten nicht, was Müllke stu-ete heißt, und der Lehrer überhaupt nicht. Dies wurde dann von anderen Kindern aus den Dörfern übersetzt und ich glaube, der Lehrer sagte: „Das dürfen wir in der Schule nicht. Jedoch es ist sehr nett, dass Du dies sagst.“

Nach all den Jahren habe ich dies nicht vergessen und Ihr Buch brachte diesen Vorfall wieder gut in meine Erinnerung. ..................

.................und völl Jrööß ut Pickering to Wasseberch, Walter Reece.“

 

Erinnerungen an Familie Reis

Walter Reis (1920 — 2005) übermittelte seinem Freund Alex Salm aus Wegberg, mit dem er als Kind zusammen Hebräisch lernte, 1999 ein Tonband mit seinen Kjndheits- und Jugenderinnerungen. Er schildert unter anderem, wie seine Familie in der Nazi-Zeit immer mehr in große Not geriet.

Daran erinnert sich auch Karl Lieck: „Unsere Familie wohnte seit 1935 in der Oberstadt am Stadtrain, zuvor in der Brühl. Dort lebte auch die jüdische Familie Reis. Ich erinnere mich, dass der Vater von Walter und Betty Reis - Wilhelm Reis - in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg als Hausierer regelmäßig mit seinem Fahrrad zu uns kam. Ein großer Korb war geüllt mit Schnürsenkeln, Gummiband und sonstiger ‚Winkelsware‘, die er feilbot. Viel konnte er als Hausierer bestimmt nicht verdienen, aber die Not trieb ihn dazu.

Nachbarn unterstützten die Familie heimlich

Daneben hatte die Familie Reis, wie Walter Reis berichtet, einen großen Garten, so dass seine Mutter einiges Obst und Gemüse an einen Obsthändler, bei dem sie früher Kunde war, verkaufen konnte. Aber auch liebe Nachbarn unterstützten sie heimlich, wie mir Käthe Stolz, geb. Theißen, sagte.“

Aus Krefeld ins ländliche Wassenberg

Walter Reis erklärt in seinem Bericht: „Wir waren sehr arm um die Zeit!“ Aus gewiss glücklicheren Tagen schrieb Walter Reis im Jahr 2002 an Karl Lieck. Seine Großmutter Johanna Hertz, geborene Roosen, stammte aus Krefeld. Als sie Ende 1870 von der Großstadt Krefeld in das ländlich-bäuerliche Wassenberg kam, schrieb sie ein Gedicht über ihre neue Heimat:

Wassenberg

Und regnet es in Wassenberg, dann gibt es auch viel Wasser.

Und regnet es in Wassenberg, dann ist es auch viel nasser

als in der Stadt, wo Trottoir (Bürgersteig) und schöne Pflaster sind.

Hier plasteret für gewöhnlich nur die Kuh, das Kalb, das Rind.

Und was das für ein Pflaster ist, das malt ihr gar nicht aus.

Denn fällt man drin, so bringt man gleich die Landschaft mit nach Haus. 

 

(Karl Lieck)


 

Walter Reis: Weihnachts-Geschichten aus der Kinderzeit in Wassenberg

Wie selbstverständlich das Zusammenleben der jüdischen Mitbürger mit den übrigen Bewohnern Wassenbergs vor der Nazizeit war, mag der Brief verdeutlichen, den der einstige „Bröhler Jong“ Walter Reis einmal vor Weihnachten an die Familie von Karl Lieck schrieb:

„Meine Schwester Betty und ich und unser Vetter Heinz Hertz gingen in Wassenberg in die evangelische Volksschule. Wochen vor Weihnachten wurden dann die Weihnachtslieder in der Schule geübt und bis heute kenne ich noch die meisten - und oft mit allen Strophen. Einige Tage vor Weihnachten gingen wir Jungens in einen kleinen Wald bei der Eisenbahnlinie und suchten uns den besten Baum aus. Nach dem Absägen des Baumes trugen wir den großen Tannenbaum auf unseren Schultern zu der evangelischen Kirche.

Wir sangen dann Weihnachtslieder und die Leute kamen aus den Häusern heraus und hörten uns zu. Dann wurde der Baum aufgestellt und die Mädchen kamen dann auch und halfen beim Beschmücken des Baumes, Damals war das mit Kerzen, die dann am Weihnachtsabend den Tannenbaum beleuchteten. Der Tannenbaum reichte fast bis an die Decke der kleinen Kirche.

Am Heiligen Abend gingen wie alle dann, auch die jüdischen Kinder, in die Kirche und sangen begeistert die Weihnachtslieder, Ich weiß noch, dass ich den Blasebalg an der Orgel mit dem Fuß bediente, weil der Lehrer die Weihnachtslieder spielte. Nach der Feier wurden wir Kinder beschenkt. Oft bekamen die evangelischen Kinder ein Gebetbuch oder ein religiöses Liederbuch. Wir drei jüdischen Kinder bekamen ein anderes Buch oder eine Süßigkeit.

Am Weihnachtstag besuchten wir dann manche Nachbarhäuser. Man ließ uns in die gute Stube, wo der Weihnachtsbaum stand. Wir sangen Weihnachtslieder und erhielten Plätzchen und Süßigkeiten. Es war Sitte, dass man zuerst zu den älteren Nachbarn ging.

Wir zu Hause hatten keinen Weihnachtsbaum, denn wir feierten Hanukah, was meistens um die selbe Zeit wie Weihnachten war. Wir zündeten dann die Hanukah-Kerzen an: Am ersten Feiertag nur eine, bis dann am achten Tag acht Kerzen. Ich erinnere mich, dass mein Vetter Heinz, Theo Jansen und ich versuchten, die Kerzen so lange wie möglich brennen zu lassen. Das waren oft viele Kerzen, denn mein Vater‚ mein Onkel Karl Heitz (Hertze Karl genannt), Heinz und ich - alle hatten unsere eigenen Hanukah-Kerzen. Unsere Kinderkerzen waren nicht auf einer Menorah, sondern auf einfachen Bleileuchtern. Als wir mit dem letztem Flackern der Kerzen spielten, schmolz das Blei und brannte den Holztisch an. Natürlich war das das Ende unseres Spielens mit den Kerzen.

Als wir zehn, zwölf Jahre alt waren, war der feste Glaube an den Zinter Kloas nicht mehr da. Wenn er dann die Brühlstraße herunter kam mit dem schwarzen Peter, liefen wir frechen Buben ihm nach und riefen „Zinter Kloas hält Jeetebeen!“ Dann sprangen wir über den Wassergraben, so dass uns der schwarze Peter nicht fangen sollte. Hans Jansens Sprung war zu kurz und er kam mit einem Fuß in den Wassergraben, jedoch er entkam dem schwarzen Peter.

Völl Jrööß van Pickering nach Wasseberch, Ihre Ellen und Walter Reece.“

 

Walter Reis - Kindheit und Jugend